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Politik

Jetzt bloß keine Katastrophe

Wenn es ernst wird in Deutschland, kommt ein Amt ins Spiel, das kaum jemand kennt. Und zuständig ist es eigentlich auch nicht

Schreiende Menschen, weinende Kinder, zersplitterte Scheiben, ein komplettes Verkehrschaos, das sich von Berlin-Mitte auf das ganze Stadtgebiet ausdehnt – man mag sich die Folgen eines Terroranschlags im deutschen Regierungsviertel nicht vorstellen. Aber nach „Paris“ gilt auch bei uns das Undenkbare nicht mehr als undenkbar. Woher kommen die Betten für Verletzte mit Verbrennungen? Wie verhindert man eine Massenpanik? Wer koordiniert die Helfer, wer strukturiert die nächsten Tage? Und was, wenn Terroristen lebenswichtige Infrastrukturen angreifen, die Strom- und Wasserversorgung zum Beispiel, und eine Katastrophe auslösen?

Reflexartig wird bei derart furchtbaren Fragen die Bundeswehr ins Spiel gebracht. Aber es gibt eine Behörde, die von Amts wegen auf solche Fälle vorbereitet sein muss: das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) in Bonn. Der 57-jährige Jurist Christoph Unger ist Präsident dieser Bundesbehörde, deren Aufgabe darin besteht, Krisen vorauszudenken, wo andere ins Alltagsgeschäft verstrickt sind. Und im Fall des Falles alle Hilfskräfte zu koordinieren.

Unger steht im Lagezentrum seines Amtes. Der große Raum im früheren Arbeitsministerium von Norbert Blüm ist heutzutage eine Art Newsroom für Katastrophen. Hier fließen alle denkbaren Informationen zusammen, die für Deutschland Unheil verheißen könnten: Unwetterwarnungen aus aller Welt, Terrorwarnstufen in Brüssel, Beobachtungen von den Krisenherden im Nahen Osten. Im Dreischichtbetrieb überwachen Mitarbeiter rund um die Uhr die Newsticker, folgen auf Großbildschirmen den Nachrichtensendungen. Wenn eine Katastrophe auf Deutschland zurollt, dann wissen sie hier in Bonn frühzeitig davon. Und sie wissen auch, was zu tun wäre.

Aber ob sie es auch tun dürfen, ist ungeklärt. Wenn es strikt nach Recht und Gesetz geht, könnten die Bonner – etwa bei einem Terrorangriff wie dem in Paris – gar nicht in Aktion treten. Erst müsste das betroffene Bundesland um Amtshilfe bitten. In Frankreich erklärt Präsident François Hollande dem „Islamischen Staat“ den Krieg. In Deutschland begänne wohl erst einmal eine Debatte um Zuständigkeiten.

Formal ist das BBK, als 2004 gegründete Nachfolgeeinrichtung des früheren „Bundesamts für Zivilschutz“, lediglich für die Folgen kriegerischer Angriffe auf die Bundesrepublik zuständig. Alle „friedensmäßigen“ Krisen, von Naturkatastrophen über Epidemien bis zu Terrorattacken, sind immer noch Sache der Länder. Diese rechtlich festgeschriebene Eigenverantwortung wird tapfer verteidigt.

In der Praxis bedeutet dies, dass 400 Landkreise und kreisfreie Städte, 12.000 Gemeinden, 24.000 Freiwillige Feuerwehren, 100 Berufsfeuerwehren und 1,7 Millionen ehrenamtliche Kräfte, auch von privaten Hilfsorganisationen, koordiniert zusammenarbeiten müssten – ohne zentrale Koordination. „Bei lokalen Unglücken ist das sogar ein Vorteil“, stellt Unger klar: „weil die Leute sehr schnell am Einsatzort sind.“ Kaum ein anderes Feuerwehrsystem der Welt könne sich einer so schnellen Reaktionszeit, nämlich acht bis zehn Minuten, rühmen wie das deutsche.

Aber bei Aufgaben von länderübergreifender oder nationaler Größenordnung, wie etwa bei Hochwassern oder Seuchen wie der Schweinegrippe, erweist sich der Föderalismus als lückenhaft. Gesetzliche Anpassungen blieben bislang aus. So laviert man sich durch. Wenn es kritisch wird, legen die Länder auf einmal auch nicht mehr so viel Wert auf Autonomie. Zu besichtigen ist das in der Flüchtlingskrise. Da rufen sie händeringend nach der Hilfe des Bundes, etwa bei der Unterbringung und Verteilung der vielen Schutzsuchenden. Beamte des BBK mieteten jüngst Busse oder Züge an, damit die Flüchtlinge von Bayern aus weiterreisen konnten.

Das bindet Kräfte. So musste das BBK sogar die Krisenmanagementübung „Lükex“, die in der vergangenen Woche stattfinden sollte, absagen. 3000 Entscheidungsträger aus Kommunen, Ländern und dem Bund sollten zusammenkommen. Daraus wurde nichts – die Flüchtlingskrise geht derzeit vor.

Ungers Behörde hat eigentlich eine tolle Ausstattung. Die Mitarbeiter verfügen nicht nur über die nationalen und internationalen Kriseninformationen, sie wissen außerdem, wo sich Sandsäcke oder Betten, Medikamente oder Impfstoffe, Chlorkalk oder Verbandszeug auftreiben lassen, zur Not auch im Ausland. Sie können Einsätze koordinieren. Das Amt beauftragt Forschungsprojekte und beteiligt sich an solchen. In eigenen Labors testen Wissenschaftler sichere Stoffe für Schutzkleidung oder die Genauigkeit von Instrumenten zur Strahlungsmessung. Für die Länder rüstet das BBK in riesigen Hallen Spezialfahrzeuge aus, zum Beispiel ABC-Schutzfahrzeuge oder geländegängige Feuerwehrwagen mit Allradantrieb – tauglich für den Verteidigungsfall.

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Und doch war der Katastrophenschutz schon einmal deutlich besser ausgestattet; seit 1990 sind die Kapazitäten drastisch reduziert worden. Es gibt keine Schutzräume für die Bevölkerung mehr, keine Warnsirenen, nicht einmal die Verantwortlichen in Berlin könnten sich in einem Regierungsbunker zurückziehen.

Die Stimmung nach dem Ende des Kalten Krieges, das jahrelang anhaltende Gefühl, am Ende der Geschichte angelangt und nur von Freunden umgeben zu sein, hatte einen enormen Rückbau von Bundeswehr und Zivilschutz zur Folge. Eine Stimmung, die dazu führte, dass auch Privatleute heute kaum noch Lebensmittel, Wasservorräte und Kerzen einlagern, wenn sie nicht gerade Survival-Freaks sind. Die Realität zeigt aber tatsächlich, dass Dinge, die niemand für wahrscheinlich gehalten hat, schneller eintreten können, als man sich versieht. Und dass es für Katastrophenschützer absolut sinnvoll ist, das Undenkbare mitzudenken, um vorbereitet zu sein.

Jetzt, da die Flüchtlinge den Staat fordern, wird deutlich, wie dünn die Decke beim Schutz der Bevölkerung ist und wie eng die rechtlichen Grenzen von Ämtern wie dem BBK sind. Und so hat Christoph Unger an diesem trüben Novembermorgen wahrlich keinen Grund, besonders fröhlich dreinzuschauen. Was, wenn neben der Flüchtlingskrise noch irgendetwas anderes passiert? Wirksamer Katastrophenschutz lebt vom Training, vom guten Informationsaustausch zwischen den Verwaltungsebenen und den politisch Verantwortlichen.

Der Behördenchef will keine Diskussion über die Rolle seines Hauses vom Zaun brechen, nicht in diesen schwierigen Zeiten. Und doch muss geklärt werden, wann nun eigentlich sein BBK zum Zuge kommen soll und wann nicht. Ist es tatsächlich sinnvoll, die Aufgabenstellung des Amtes in „Kalter Krieg“-Tradition auf die Nachbereitung eines Atomangriffs zu beschränken? Was, wenn der „Krieg“ so aussieht wie am 13. November in Paris? Oder es Anschläge auf die Lebensmittel- oder Energieversorgung gibt? Wäre es dann nicht gut, wenn die zentral informierte Stelle in solchen Fällen ohne die Rechtskonstruktion der „Amtshilfe“ die Koordination der Einsatzkräfte übernehmen könnte? Vieles spricht dafür, dass eine zentrale Steuerung komplexer Notlagen eingerichtet werden muss, bevor sie eingetreten sind – Föderalismus hin oder her.

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